Aderlass

Angst vor mittelalterlichen Methoden?

von Roland Tennie

Zugegeben, wenn wir über Aderlass nachdenken, sehen die meisten Menschen ein blutrünstiges Unterfangen vor ihrem inneren Auge, das wir vor allem aus Mittelalterfilmen und -erzählungen kennen. Das liegt daran, dass es bei diesen Geschichten nicht unbedingt um eine realistische Darstellung geht. Viel eher sollen dramatische Bilder erzeugt werden, die mehr der Stimmung im Buch oder Film dienen als der neutralen Abbildung dieser Heilmethode. Häufig wird sogar der Eindruck vermittelt, es handle sich um traditionelle Scharlatanerie, die eher zur Schwächung eines kranken Körpers beiträgt, denn zu dessen Heilung.

Wieder populär – nicht nur in der Naturheilkunde

Das mag in einigen Fällen sicher richtig sein. Denn Aderlass galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als eine Art Allheilmittel und wurde bei weitem nicht nur sinnvoll eingesetzt. In der Schulmedizin spielte er auch über viele Jahrzehnte hinweg kaum mehr eine Rolle, wohingegen die Naturheilkunde ihn stets für ein vielfältiges Anwendungsspektrum nutzt. Generell beobachte ich, wie die Anerkennung seiner heilenden Wirkung wieder wächst. Sicher ist, heute wird die Methode als sanfte Präventionsmaßnahme angewendet, weil sie zur Stärkung des Immunsystems beiträgt. Sie kommt aber auch bei schwerwiegenden Krankheitsbildern zum Einsatz. Es geht im Allgemeinen darum, einen hohen Blutdruck abzusenken und dafür zu sorgen, dass Blut ungehindert fließen kann und nicht zu zähflüssig wird

Aderlass kurz erklärt

Kurz gesagt, wir entziehen beim Aderlass dem Körper Blut und wollen damit die Kräfte des Körpers zur Selbstheilung anregen. Dann fließen Blut und Gewebeflüssigkeit nach und ein Reiz wird an das Knochenmark gesendet, neue Blutzellen zu bilden. Diese „jungen“ Blutzellen „arbeiten“ effizienter als die alten und bringen damit unser Blut wieder in Schwung und schwemmen Rückstände und Giftstoffe aus. 

Hilfe bei Zivilisationskrankheiten

Wir nutzen den Aderlass gerne zur Behandlung von typischen Zivilisationskrankheiten. Da wir Menschen zu fett und zu viel essen, oft unter Übergewicht leiden, uns permanentem Stress und Lärm aussetzen, zu viel Alkohol trinken und zu viel rauchen, ohne dass wir diese Sünden durch genügend Bewegung und Sport ausgleichen, leiden viele zum Beispiel an Bluthochdruck. Mit dem Aderlass können wir den inneren Druck mildern und ihm langfristig entgegenwirken. Dafür nehmen wir Patienten bis zu 500 Milliliter venöses Blut ab. 

Wogegen hilft der Aderlass

Häufig setzen Schulmediziner und Heilpraktiker den Aderlass auch bei Policythaemia vera (PV) ein. Dabei handelt es sich um die Vorstufe einer Art chronischen Blutkrebses, bei dem die Bildung neuer Blutzellen im Knochenmark nicht störungsfrei klappt. Es kommt zu einem erhöhten Angebot an roten Blutkörperchen, das im schlimmsten Fall zu Thrombosen, Schlaganfällen oder Herzinfarkten führen kann. Durch regelmäßige Blutabnahme sorgen wir für Erleichterung. Die auch bei Polyglobulie hilft. Sie wird durch einen zu hohen Flüssigkeitsverlust ausgelöst, wie wir ihn bei längeren Magen-Darm-Krankheiten erleben. Auch Sauerstoffmangel im Blut, zum Beispiel wegen Lungen- oder Herzerkrankungen, aber auch durch Höhenaufenthalte von über 4.000 Meter können ursächlich sein. 

Ferner unterstützt der Aderlass die Behandlung von Hereditärer Hämochromatose, einem vererbbaren genetischen Defekt und hilft bei Porphyria cutanea tarda, einer Stoffwechselerkrankung, die auf der Haut zu Blasenbildung und Verletzlichkeit führt, wenn sie der Sonne ausgesetzt ist. 

Fast keine Nebenwirkungen

Das Beste: Aderlass bringt kaum Nebenwirkungen mit sich. Es kommt zwar vor, dass Patienten für kurze Zeit unter Schwindel oder Ohmacht leiden, die Herzfrequenz sich durch das Absinken des Blutdrucks verändert oder ihnen der Schweiß ausbricht, wenn das venöse Blut in die vorgesehen Beutel abgelassen wird. Bei guter Hydration nach der Behandlung und einem Abbruch, falls sie auftreten, verschwinden die Symptome schnell wieder. Nur wer unter einem akuten Infekt leidet oder unter Herzrhythmusstörungen oder Herzinsuffizienz, schwanger ist oder stillt, sollte nicht zur Ader gelassen werden. 

Sie sehen, mit den blutrünstigen Bildern aus Mittelalterfilmen hat die heutige Behandlung rein gar nichts zu tun. Wissenschaftler der Charité in Berlin haben bereits 2016 nachweisen können, dass sich der Bluthochdruck durch Blutspenden effektiv senken lässt. Und im Grunde ist der Aderlass ja nichts anderes als eine Blutspende. Sinnvoll angewendet – und davon können wir beim heutigen Forschungsstand ausgehen – verschafft vielen Leiden im wahrsten Sinne des Wortes Erleichterung und sorgt durch die Anregung der Zellbildung für einen wahren Frischekick im Körper.