Unternehmensfinanzen

Bauchgefühl macht ein Business einzigartig, Zahlenverstand hält es am Leben

von Jörg Roos

Jörg Roos beherrscht die Sprache der Zahlen fließend und übersetzt sie in Unternehmer:innen-Deutsch. Nach seiner Karriere als angestellte Führungskraft unter anderen bei der Deutschen Bank und Medion, unterstütz er heute ambitionierte Unternehmer:innen dabei, ihre Zahlen zu verstehen und Geschäftsideen in ein finanziell erfolgreiches Unternehmen zu transformieren.

Herr Roos, vielen Führungskräften und Unternehmer:innen macht der Cashflow am meisten zu schaffen. Ab wann muss man darauf achten, damit ein Liquiditätsengpass für das Unternehmen nicht fatal wird?

Immer. Es gibt einen Grundsatz, den sich jede Führungskraft mit Budgetverantwortung und jede:r Unternehmer:in hinter die Ohren oder auf dem Desktop schreiben muss: Liquidität geht immer vor Rentabilität.

Das bedeutet: Sie müssen immer dafür sorgen, dass möglichst viel Geld auf dem Konto ist, selbst wenn sie das gegebenenfalls ein paar Gewinnprozentpunkte kostet. Ein klassisches Beispiel, was ich immer wieder erlebe: Unternehmen, die stark wachsen, müssen häufig Ware vorfinanzieren. Sie muss ja zunächst eingekauft werden, bevor sie verkauft werden kann. Bei stetigem Wachstum schafft das nicht gleich ein großes Problem. Wenn mein Unternehmen oder meine Abteilung dynamisch wächst, stehe ich vor der Herausforderung, deutlich mehr für den Einkauf ausgeben muss, als ich momentan Umsatz mache. In solchen Fällen kann Factoring eine gute Lösung sein. Da sagen viele: Nein, da muss ich ja zwei, drei Prozent meines Gewinns abgeben. Das mache ich nicht. Ich halte das für ein falsches Mindset.

Am Ende muss jede:r erkennen, dass er oder sie den Wachstumsprozess vernünftig finanzieren können müssen. Ein anderes Beispiel: Das aufeinander abstimmen des eigenen Zahlungsverhaltens von Rechnungen. Wenn ich Rechnungen von anderen bekomme, gleiche ich das mit dem Zahlungsverhalten meiner Kund:innen ab. Ich erlebe relativ häufig, dass Unternehmer:innen sehr schnell ihre Rechnungen bezahlen, weil sie keine Schulden bei anderen haben wollen. Sie brauchen aber extrem lange, um selbst Rechnungen zu schreiben und trauen sich kaum nachzuhaken, warum Kund:innen noch nicht bezahlt haben. Schließlich hoffen sie auf einen Folgeauftrag und wollen ihre:n Kund:innen nicht auf die Nerven gehen.

Das ist kein kluges Vorgehen…

Wenn ich Eingangs- und Ausgangsrechnungen miteinander abgleiche, sage ich: Achten Sie darauf, dass Sie die Zahlungsziele, die Sie von anderen haben, auch ausnutzen. Was nicht heißt, überziehen Sie die oder zahlen Sie Ihre Rechnungen zu spät. Aber, wenn da schon steht, Sie haben 14 Tage Zeit, dann nutzen Sie doch 12, 13, 14 Tage aus. Und auf der anderen Seite möchte ich dazu einladen, die eigenen Prozesse zu optimieren, so dass am Tag, an dem Ihre Dienstleistung oder Ihr Produkt verkauft ist, auch die Rechnungsstellung erfolgt, inklusive klarem Zahlungsziel. Halten Kund:innen das nicht ein, kann eine Assistenz oder können auch Sie selbst freundlich nachtelefonieren. Oft wird eine Rechnung tatsächlich nur vergessen. Wenn ein:e Kund:in nicht bezahlt, braucht es einen konsequenten Prozess. So nervt man seine Kund:innen oft nicht, sondern zeigt im Gegenteil, dass das eigene Unternehmen professionell geführt wird. Gleichzeitig sorgen Sie so dafür, dass Geld so schnell wie möglich auf Ihr Geschäftskonto fließt. Sie werden sich wundern, wie zügig sich das addiert.

Sie haben das Thema Wachstum bereits angesprochen und dass die Finanzen dort oft zum Knackpunkt werden. Plötzlich müssen beispielsweise Angestellte bezahlt werden. Wie gehen Führungskräfte das am besten an?

Ich sehe zwei Quellen für unternehmerisches Wachstum. Die eine ist das Personal, das Sie ansprechen. Die zweite Quelle heißt Marketing. Ich fasse beides als so genannte Wachstumskosten zusammen. Ich rechne da auch die Privatentnahmen und Kosten für Freelancer zum Beispiel mit rein. Rein steuerrechtlich gehören die nicht dazu. Wir sprechen aber über eine betriebswirtschaftliche Betrachtung. In diese gehören diese Kosten mit rein und ich passe sie entsprechend dem Rohertrag an. Achtung! Ich gehe nicht vom Umsatz aus, sondern ziehe vorher zum Beispiel Materialkosten ab, damit sich das Prinzip auch auf alle Branchen in etablierten Geschäftsmodellen anwenden lässt. In meiner Unternehmensbetrachtung nutze ich im ersten Schritt zwei Kennzahlen: Das Verhältnis von Wachstumskosten und Gewinn zum Rohertrag. Wenn die Wachstumskosten im Vergleich zum Rohertrag nicht höher als 55 Prozent liegen, mache ich einen Haken dran. Dann schaue ich mir den Gewinn an, die entscheidende Kennzahl. Sie zeigt, was am Ende rauskommt. Wenn der Gewinn mindestens 20 Prozent des Rohertrags ausmacht, passt das für mich ebenfalls. Dann kann ich im Zweifel auch ein kleines Mehr als 55 Prozent an Wachstumskosten akzeptieren. Denn das Tagesgeschäft läuft profitabel. Aber Achtung, es kommen immer noch Raumkosten, Versicherungen, Strom, Wasser, Gas und vieles mehr hinzu. Diese Kosten dürfen Sie auch nicht außer Acht lassen.

Viele Unternehmer:innen investieren und planen nach dem Motto: „Ich möchte weniger Steuern bezahlen, was können wir machen?“ Das verstehe ich. Aber ist das nicht ein völlig falscher Ansatz?

Ich erlebe das tatsächlich relativ häufig, wenn ich meine 360 Grad Businessanalyse mache, dass die Leute sagen: Ich möchte weniger Steuern zahlen, wie setzen wir das um? Das finde ich in Ordnung. Steuern sind natürlich die größte Ausgabenposition in der Gewinn- und Verlustrechnung. Aber bitte nicht mit den unternehmerischen Zielen verwechseln. Das heißt nämlich: Ich möchte nachhaltig möglichst viel Gewinn produzieren. Wenn ich mein Geschäftsmodell, meine internen Prozesse optimiert habe, dass nachhaltig gute Gewinne dabei rauskommen, kann ich mich ab einer gewissen Größenordnung mit Steuerersparnissen durch neue Rechtsformstrukturen oder mit Ähnlichem beschäftigen. Dafür braucht es dann aber echte Expert:innen im Bereich Steuergestaltung, die eine auf Sie individuell zugeschnittene Lösung erarbeiten, die auch einen Betriebsprüfung standhalten und keine Steuernachzahlungen nach sich ziehen, die das Unternehmen vielleicht sogar in die Insolvenz treiben.

Was müssen Unternehmer:innen denn noch beachten, um ein stabiles Unternehmen aufzubauen?

Da gibt es einen erprobten, vielfach getesteten Weg und der sieht immer gleich aus, egal in welcher Branche wir ihn gehen. Man fängt immer im ersten Schritt damit an Transparenz und Verständnis aufzubauen. Es wird geklärt: Wo steht Ihr Unternehmen gerade und verstehen Sie, wie es dazu gekommen ist? Welche Entscheidungen haben dazu beigetragen? Im zweiten Schritt müssen wir ein profitables Tagesgeschäft aufbauen. Der Vertrieb ist daher enorm wichtig. Das beste Finanzwissen nützt nichts, wenn kein Geld reinkommt. Da sind wir dann bei den bereits erwähnten 20 Prozent Gewinn vom Rohertrag, die wir nachhaltig produzieren müssen.

Mal einen Monat oder ein Jahr reicht nicht aus. Wurde dieses Ziel erreicht, bauen wir im nächsten Schritt eine Liquiditätsreserve auf: Rücklagen für sechs Monate, die auf einem Konto außerhalb des Geschäftsgiro geparkt werden. Das muss alle Kosten beinhalten, die man als Unternehmen verpflichtend über sechs Monate leistet. Fixkosten plus zum Beispiel Honorare für Freelancer, die Sie zwar von heute auf morgen kündigen können, aber die Sie brauchen, um Ihr Geschäft überhaupt betreiben zu können. Wenn ich das erwähne, sagen viele, ich spinne. Aber ganz im Gegenteil. Einige Berater:innen reden sogar von 12-Monaten-Reserve. Bei vielen Unternehmen waren es vor Corona rund sechs Wochen, die sie von dem Geld in der Hinterhand überleben konnten. Heute reicht das Geld oft nur für sechs Tage oder gefühlt sechs Stunden. So sieht die Realität aus.

Auch zur Wahrheit gehört aber, dass ein Unternehmen ja äußerst selten gar keinen Umsatz mehr macht. Vielleicht verlieren Sie in einer Krise 70 Prozent des Umsatzes. Dann reichen die Rücklagen für acht oder neun Monate. In dieser Zeit sind wir in der Lage, strategische neue Entscheidungen zu treffen, weil wir durch die Reserve Ruhe und Sicherheit spüren. In guten Zeiten haben wir vorgesorgt und können das Unternehmen in schwierigen Zeiten neu ausrichten. Mit 20 Prozent Gewinn vom Rohertrag und den Rücklagen für sechs Monate haben wir ein Fundament geschaffen, auf dem ein Unternehmen stabil steht, profitabel, gesund und nachhaltig wachsen kann.

Buchtipp:
Der Führungshappen
Jana Assauer und Mona Schnell (Hrsg.) im Interview mit Jörg Roos u.a.
Mehr als 200 Jahre Führungswissen in einem Buch
ISBN 978-3-98640-019-4