Warum Corona nichts und doch alles ändern wird
1. Der Verlust und die Persönlichkeit
Als die Krise kam, bekamen wir die Krise. Schritt für Schritt wurde uns vieles genommen: das Büro, der echte soziale Kontakt, die Sicherheit. Natürlich wurde nicht allen alles genommen und manche behielten mehr als andere. Geregelte Tagesabläufe zum Beispiel waren für Selbstständige, die ohnehin im Home-Office arbeiten, leichter aufrechtzuerhalten. Während manche Branchen direkt auf Kurzarbeit umstellten und einige Weiterbildungsanbieter so viele Workshop-Stornos reinbekamen, als hätte ein Anti-Weihnachtsmann alle Befürchtungen in Wünsche umgesetzt, hatten andere Trainer im März, April und Mai mehr zu tun als im gesamten 2. Halbjahr 2019. Manche schmerzten also die Verluste. Die Gewinner der Situation fühlten sich jedoch gar nicht wirklich, als hätten sie gewonnen. Das mag schräg klingen, ist aber Wissenschaft. Denn viele Forschungserkenntnisse zeigen, dass Verluste doppelt so schwer wiegen wie mögliche Gewinne und je höher ein Gewinn ausfällt, umso weniger berührt er uns.
Befeuert wird dieser Umstand noch von der Vielfalt unserer Persönlichkeit. Auf Basis des einzigen wissenschaftlich anerkannten und empirisch einigermaßen stabilen Persönlichkeitstests, gibt es fünf grundlegende Faktoren, in denen sich Menschen unterscheiden: ihre Offenheit für Neues, ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Extraversion, ihre Verträglichkeit und ihr Neurotizismus. Menschen bewegen sich bei allen fünf Faktoren auf unterschiedlichen Ausprägungen. Sprich: Alle haben alles nur eben unterschiedlich viel davon. Klar ist, Menschen mit mehr Offenheit lassen sich schneller auf den Wechsel in den Kommunikationstechnologien ein, stellen sich eher auf ungewohnte Anfragen ihrer Kompetenzen ein und suchen nach neuen Möglichkeiten, sinnvoll aktiv zu werden. Menschen mit mehr Extraversion fällt es leichter, auch bei physischer Distanz Kontakte und Kommunikation aufrechtzuerhalten und in der Videokonferenz herzlich zugewandt zu sein. Menschen mit stark ausgeprägtem Neurotizismus neigen eher zum Grübeln, zum Sorgenmachen und zur Stressanfälligkeit. Menschen mit mehr Gewissenhaftigkeit zeigen sich tendenziell disziplinierter, zielstrebiger und mitunter auch weitsichtiger. Im Großen und Ganzen betrachtet, sind die Ausprägungen solcher Persönlichkeitsmerkmale normal verteilt – viele Menschen haben eine durchschnittliche Ausprägung, wenige haben davon besonders viel oder wenig. Was bedeutet das für die aktuelle Situation? Den einen geht es richtig schlecht, den anderen geht es so wie immer.
So, und nun die Preisfrage: Wer will, dass sich etwas in der Gesellschaft ändert? Das kann man so genau gar nicht sagen, oder?
2. Die Rückkehr zu unserem Set-Point
Während wir uns von dieser rhetorischen Plattitüde erholen, platzt die nächste menschliche Bombe. Der Set-Point. Einfach gesagt, beschreibt dieser, dass vieles im menschlichen Verhalten und Erleben um eine Art Basiswert schwankt. Ein bisschen so wie unser Gewicht in diesen Tagen. Langzeitstudien lassen beobachten: Die menschliche Gemütslage nach einer Hochzeit entspricht recht schnell wieder der von vor der Hochzeit. Selbst Lottogewinne oder, ein wenig ernster, der Verlust eines geliebten Menschen wirken nicht so lange nach, wie wir es glauben möchten. Menschen kehren recht schnell wieder zu ihrem gefühlsmäßigen Basiswert zurück.
Einige Belege aus der Praxis: Hat die Finanzkrise unser Ausgaben- oder Sparverhalten etwa nachhaltig verändert? Hat die Aids-Krise heute noch Einfluss auf unser Paarungsverhalten? Hat 9/11 heute noch Auswirkungen auf die Touristen, die jedes Jahr nach New York strömen? Hatten die Ölkrisen der vergangenen 50 Jahre wirklich messbare Auswirkungen auf unsere Mobilität? Nicht wirklich!
Unser gesellschaftliches Miteinander ist ebenso robust wie unser individueller Set-Point. Insofern hat Matthias Horx mit seiner Optimismus-Herbst-Prognose gar nicht so unrecht, auch wenn die Jahreszeit vielleicht eine andere sein mag: Wir schauen zurück auf eine Zeit, in der wir merkten, dass sich vieles von heute schon morgen ändern kann und, dass sich im Anschluss alles ein wenig beruhigt. Wir merken, dass es verschiedene Wege zum Ziel gibt und, dass Schweden und Deutschland sie gegangen sind. Und dann? Genau, dann trinken wir Cappuccino unter dem Heizpilz und diskutieren das Design des nächsten E-Golfes.
3. Gewohnheitstier oder Gewöhnungstier?
Darüber, wie sehr wir in unseren Gewohnheiten gefangen sind und wie schwer es ist, sie zu ändern, wurden bereits so viele Bücher geschrieben und gedruckt, dass jeder gesunde Baum seinen Lebensmut verliert. Der harten Veränderungsarbeit im Dschungel der eigenen Angewohnheiten steht jedoch ein Kuriosum gegenüber: die Habituation, also die Gewöhnung. Es ist tatsächlich so: Wir gewöhnen uns an nahezu alles. Als im Februar 2014 die Londoner U-Bahnen streikten, mussten Millionen von Menschen anders zur Arbeit kommen, neue Wege zum Office entdecken und nutzen. Was passierte als die U-Bahnen wieder fuhren? Fünf Prozent aller betroffenen Berufstätigen behielten die neuen Strecken bei, weil sie tatsächlich eine Verbesserung bedeuteten. Die Auswertung der Verkäufe von Berufspendlertickets brachte dieses Kuriosum ans Licht. Tatsächlich gibt es Einflussmöglichkeiten, die darauf hinwirken können, dass Menschen sich an Neues gewöhnen. Das nennt sich „choice architecture“, flockig übersetzt, „Wahlarchitektur“ und „environmental engineering“, so etwas wie „Umgebungsdesign“. Das sind zwei bisher nur in der Forschung etablierte und in der Gegenwart noch recht ungenutzte Vorgehensweisen aus dem Bereich der Sozialpsychologie.
4. Warum sich alles ändert, auch wenn sich nichts ändern wird?
Die Entdeckung der Video-Konferenz. Ja, gab es die denn vorher nicht? Doch, aber es wollte sie keiner. Und zwar nicht, weil eh alle im gleichen Raum waren, am großen Eichentisch staubtrockene Kekse futterten und das Brainstorming nannten. Sondern, weil alle telefonierten. Ich frage mich: Warum ist das Telefon so in die Imagekrise geraten, dass wir lieber in kleine Kameras hineinstarren als mit dem Hörer am Ohr genüsslich aus dem Fenster zu schauen? Warum waren Webcams so schnell ausverkauft wie Toilettenpapier? Es ist ein Beispiel dafür, dass wir uns, ein Stück weit vom Konformitätsdruck getrieben, ein wenig mehr Verhaltensflexibilität verordnet haben. Und so sieht die heute aus:
1. Ein Quäntchen mehr Nachdenken über angemessene Kommunikationswege: Zwar will keiner immer nur noch Videokonferenzen haben, aber es ist gut zu wissen, dass sie recht stabil funktionieren, wenn der nächste Sparplan des Unternehmens das Reisen zu unsinnigen Meetings einschränkt. Und ehrlich gesagt, haben wir das alle schon einmal gehofft, dass uns eine solche Entscheidung den Weg in den Stau in den Zug usw. erspart.
2. Ein bisschen spürbare bürgerliche Selbstwirksamkeit: Die wird zwar nie so genannt werden, aber als solche erlebbar sein. Der Gedanke „wir haben es geschafft“, entweder, weil wir mussten oder, weil wir wollten, lässt uns den Unsicherheiten, die noch auf uns zukommen, stabiler entgegentreten.
3. Ein wenig mehr realistische Flexibilität, die uns in den verschiedensten Bereichen untergekommen ist: Die „You can’t win them all“-Erkenntnis nach Einbußen durch Einschränkungen, zig verlorenen Pitches und erzwungener beruflicher Neuorientierung ist im ersten Moment ernüchternd. Die daraus entstehende Phase der individuellen Instabilität ertragen wir schwer. Neben dem Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme werden wir aber durch das Zurückgeworfen-Sein auf uns selbst einen Baustein in unseren Biographien haben, der uns zeigt: Es kann gehen, wenn ich einen Weg finden will und es gibt immer mehr als nur einen Weg.
So klein die Beschreibungen auch gewählt sind, so groß ist das, was dahinter an Änderung steht: Entscheidungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit, Verhaltensflexibilität – das sind ein paar der ganz großen Themen in der Psychologie. Wenn diese sich in Corona-Zeiten für den Einzelnen nur ein wenig ändern, ist das trotzdem viel!