Führung in Krisenzeiten beginnt, bevor die Krise da ist
Organisational-Resilience-Experte Uwe Rühl sammelte jahrelang Erfahrung im Katastrophenschutz und bei der Feuerwehr. Die Erkenntnisse aus diesen Organisationen, die dann zu Hochform auflaufen, wenn die Krise da ist, überträgt er inzwischen auf Unternehmen.
Herr Rühl, warum müssen Führungskräfte einen Fokus auf Krisen und die Abwendung von Krisen legen?
Als Führungskraft trage ich eine Mitverantwortung für die Überlebens- und Zukunftsfähigkeit meiner Organisation. Leider führen viele Menschen, besonders in komplexeren, größeren Unternehmen, mit einer „hide my ass“-Mentalität. Das heißt, sie sagen Bescheid, dass noch „Licht im Keller brennt“ und denken, dass Sie damit ihrer Verantwortung nachgekommen sind. Damit halten sie sich zwar selbst den Rücken frei. Mit Leadership hat das aber nichts zu tun. Sie geben die Verantwortung ab. Ich erlebe das sogar, wenn noch nicht einmal eine Krisensituation vorliegt.
Vielleicht bin ich an dieser Stelle aus der Blaulichtwelt geprägt. Aber ich darf als Führungskraft nicht an einer Situation vorbeilaufen, ohne einmal reinzugehen. Mein Verständnis von Führung heißt, mindestens zu fragen „Ist alles ok oder brauchen Sie Unterstützung?“ Schließlich diene ich als Führungskraft meinem Unternehmen oder meiner Organisation, meinem Team und nehme dadurch diese Position und Funktion an. Das ist keine Auszeichnung, sondern eine Verantwortung.
Wo sehen Sie die Ursachen dafür, dass sich so viele aus der Verantwortung stehlen und eher denken, „Ich habe schon so viel um die Ohren, ich kann nicht auch noch fragen, was die anderen brauchen“?
Dafür gibt es so viele Gründe, wie Menschen. Das liegt individuell an der Erfahrungswelt. Eine:r hat sich vielleicht einmal die Finger verbrannt und sagt: „Nö, ich mache das nicht mehr. So kriege ich nur von oben einen eingeschenkt. Ich halte lieber die Füße still.“ Das erlebe ich oft in stark hierarchischen Organisationen wie bei Behörden, auch bei der Berufsfeuerwehr oder im Militär. Es wird das gemacht, was in der Jobbeschreibung steht, aber eben auch nicht mehr.
Wichtig wäre an dieser Stelle, eine Hilfsbedürftigkeit überhaupt wahrzunehmen und zu merken: Jetzt ist es notwendig, dass ich mein Team frage, ob sie Unterstützung brauchen. Oder ich sehe, dass wir gerade in einen Notfall oder eine Krisensituation schlittern – andere erkennen das noch nicht. Dann gilt es zu klären: Bin ich jetzt falsch? Sind die anderen falsch? Liegt vielleicht keiner falsch, ist das nur eine Frage der unterschiedlichen Wahrnehmung? Es gibt viele Faktoren.
In der Organisational Resilience heißt das „Situational Awareness“ – die Sensibilisierung oder die Aufmerksamkeit für die Situation. Im Idealfall kannst du aus deiner Intuition, heraus sagen: „Da passt gerade etwas nicht.“ Wir nehmen unterbewusst ständig eine riesige Bandbreite an Informationen auf. Und da geht es nicht nur um das Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, sondern auch um die Wahrnehmung im Raum. Es gibt manchmal mikrofeine Signale, die unser Körper wahrnimmt, die wir aber bewusst gar nicht verarbeiten. Das prägt die Intuition. Situational Awareness passiert auf dieser intuitiven Ebene und nutzt unsere menschlichen Instinkte. Besonders in High-Reliability-Organisationen wie auf Ölbohrinseln oder in Notfalldiensten spielt das eine große Rolle. Da rettet es Leben, wenn man darauf hört, weil die Intuition schneller ist als die Ratio. Aber auch in anderen Organisationen ist diese Intuition wichtig. Die Fähigkeit, schwache, unterbewusste Signale zu empfangen und aufzunehmen und zu sagen „Was geht denn hier gerade ab?“ halte ich für einen entscheidenden Faktor.
Das finde ich interessant, weil Sie ja zum Beispiel als Auditor auch viel mit Normen arbeiten. Steht das nicht stark im Kontrast dazu?
Ich glaube, dass eine Norm, ein Standard, zum Leben erweckt werden muss, um nicht zum Papiertiger zu verkommen. Ich bin persönlich ein absoluter Freak darin, ein Managementsystem ins Leben zu bringen. Diese Normen sind eigentlich die Sinne eines Unternehmens. Sie bauen die Intuition auf Unternehmensebene auf und rufen die richtigen Verhaltensweisen ab – nicht nur auf unterbewusster Ebene, auch auf der bewussten. Es heißt ja nicht ohne Grund „Organisation“ und bei uns Menschen „Organismus“. Das schwingt miteinander.
Die Kunst von Resilience Management besteht darin, in einem Unternehmen diese Intuition aufzubauen, die krisenbehaftete Situationen relativ früh zu spüren und darauf zu reagieren. Ich will schnellstmöglich erkennen, ob eine Situation für eine Organisation überlebenskritisch wird und klären: Wie reagieren wir jetzt? Weiche ich aus? Gehe ich in den Widerstand rein und stemme ich mich gegen die Veränderung oder eben nicht?
Das nennt sich situatives Führen, wenn ich weiß und spüre, was die Situation erfordert, was die Menschen jetzt von mir brauchen. Um ein konkretes Beispiel aufzumachen: Wann reagiere ich mit einer agilen Führungsmethode auf eine Veränderung und wann eher mit „Command and Control“? Basis-Demokratie ist beispielsweise dann angebracht, wenn wir kreativ sein sollen, neue Produkte auf den Markt schmeißen und uns anpassen. Wenn’s ums nackte Überleben geht, ist die Situation reif für Führung à la „Ich treffe die Entscheidung und alle machen, was ich sage.“ Diesen Switch von Situation zu Situation hinzukriegen, ist die Kunst. Menschen auch dabei zu haben, wenn ich befehle und ihr Vertrauen dahingehend zu haben, dass sie wissen, es geht gerade darum, die Situation in den Griff zu bekommen.
In der Notfallmedizin sagen wir „time is brain“. Heißt, nach drei Minuten ohne Sauerstoff wird das mit dem Überleben kritisch. Je mehr Zeit ich in einem Notfall verdaddele, desto mehr Schaden nimmt das Gehirn. Da ist „Command and Control“ lebenswichtig. Denn es geht um Schnelligkeit. Wenn wir das auf Unternehmen übertragen, lässt sich das zum Beispiel mit einer Attacke durch Schadsoftware zu vergleichen. Da muss schnell reagiert werden, damit das Unternehmen nicht „hirntot“ endet. Also ist dieser Führungsstil gefragt. In der nächsten Phase, wenn der Patient, also das Unternehmen, stabilisiert wurde, können wir agil und demokratisch auf Ursachenforschung gehen und sagen: „Ok Leute, ich würde jetzt gern eure Meinung hören.“
Einen Aspekt möchte ich hier gern noch ansprechen: Für situative Führung braucht es Instinkt und Intuition. Instinkt ist angeboren und Intuition basiert auf Erfahrung. Letzteres bekommen wir nicht in die Wiege gelegt. Das heißt, wir müssen als gute Führungskräfte einfach auch rausgehen und Erfahrungen machen. Und die im Idealfall auch mal außerhalb unserer eigenen Branche und Bubble. Sonst können sowohl Instinkt als auch Intuition nach hinten losgehen, weil wir zu sehr in bekannten Mustern hängen, um über den Tellerrand zu schauen.
Buchtipp:
Der Führungshappen
Jana Assauer und Mona Schnell (Hrsg.) im Interview mit Uwe Rühl u.a.
Mehr als 200 Jahre Führungswissen in einem Buch
ISBN 978-3-98640-019-4