Job mit Sinn, Ikigai

Interview mit Claudia Brinkmann über Jobs mit Sinn

von Claudia Brinkmann

Claudia Brinkmann unterstützt Menschen, die sich mehr Sinn im Leben wünschen und verrät im Montagshappen-Interview, wie wir erfüllende Gründe finden, um morgens mit Freude aufzustehen und zu lieben, was wir tun – ohne dabei die finanzielle Sicherheit zu vernachlässigen.

Sie unterstützen Menschen dabei, ihrem Leben mehr Sinn zu geben. Was bedeutet „mehr Sinn“ denn eigentlich?

Beruflich bedeutet mehr Sinn vor allem, sich stärker nach seinen eigenen Potentialen und Kapazitäten zu richten. Dann strengt sie uns auch nicht ständig an oder brennt uns sogar aus. Im Gegenteil bereichert sie uns und idealerweise auch andere.

Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat das sehr treffend gesagt: Bezüglich des Sinns sollen wir uns nicht fragen, was wir vom Leben wollen, sondern was das Leben von uns wollen könnte. Mit „Ikigai“ gibt es in der japanischen Kultur ein ähnliches Konzept. Sinnbildlich übersetzt bedeutet Ikigai das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt morgens aufzustehen. Bei den Fragen zur Erforschung des persönlichen Ikigai gibt es auch die Frage nach dem Sinn in Form von „Was braucht die Welt von mir?“ Mit der Welt kann da allerdings auch das kleinste Umfeld gemeint sein: eine Person, die Familie, eine bestimmte Gruppe, eine Gemeinde oder eine Region. Wenn sich unsere Arbeit direkt oder indirekt positiv auf andere Menschen auswirkt, empfinden wir meist automatisch als sinnvoll.

Sie haben selbst schon einige Jobs gemacht: Fotografin, Marketingmanagerin, digitale Transformation in der Finanzdienstleistungsbranche, davon viele Jahre in Luxemburg. Wie war Ihr persönlicher Weg zu mehr Sinn im Job?

Ich habe immer gerne gearbeitet, mochte meine Kollegen, auch die Projekte und Aufgaben, mit denen ich betraut war. Mit der Zeit spürte ich aber immer deutlicher, dass es mir an Sinn fehlte. Ich dachte, wenn ich diese Arbeit mache und vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr in Urlaub fahre, gut und schön, aber war das dann alles? Oder wartet vielleicht noch etwas Anderes auf mich? Hinzu kamen gesundheitliche Probleme. Ich merkte, dass ich schneller erschöpft war und hatte Probleme mit der Schilddrüse. Dank meines verständnisvollen Arbeitgebers konnte ich vorübergehend in Teilzeit weniger arbeiten. Mit dem neuen zeitlichen Raum, der dadurch entstand, konnte ich mich dieser Frage dann wirklich widmen und las alles über Sinn und Erfüllung, was mir die Finger kam – besonders im Zusammenhang mit Arbeit. Ich besuchte Seminare und entwickelte mit der Zeit ein Programm, das ich zuerst ausgiebig testete und heute in weiterentwickelter Form weitergebe.

Der Sinn für mich in meiner Arbeit liegt heute darin, Menschen zu helfen, ihren eigenen Grund zu erkennen, für den es sich lohnt aufzustehen. Je mehr Menschen dieser Grund bewusst ist und je mehr Menschen auch danach leben, umso erfüllter ist nach meiner Auffassung auch die ganze Gesellschaft. Japanische Forscher konnten in der sogenannten Ohsaki-Studie sogar belegen, dass Menschen, die ihr Ikigai gefunden haben, länger Leben als Menschen, die diesen Grund für sich nicht definieren können. 

Welche Schritte führen uns denn zur beruflichen Erfüllung?

Es gibt sicherlich eine Vielzahl an Methoden, um zum gleichen Ziel zu gelangen.  Das Programm, das ich als eine Art Fahrplan für mehr Sinn im Job erarbeitet habe, enthält neben der Erforschung der eigenen Werte und Motivation die ganzheitliche Ergründung der vier Fragen aus dem schon erwähnten japanischen Ikigai: nach dem Sinn, den eigenen Talenten und dem, was mir Freude gibt. Die Freude ist ein wichtiger Kompass für mehr Zufriedenheit und Erfüllung im Job. Wichtig ist allerdings auch die finanzielle Absicherung. Die vierte Frage lautet daher: Womit kann ich Geld verdienen? Die Schnittmenge der Antworten ergibt das persönliche Ikigai. Damit arbeiten wir im Coaching weiter und sehen uns an, was vielleicht noch im Weg steht, es im Leben umzusetzen.

Beruf oder Berufung? Brauchen wir wirklich alle einen Job, der uns erfüllt oder können wir den Sinn auch woanders finden?

Warum sollte ein Job nicht die Berufung sein? Immerhin verbringen wir die meiste Zeit unseres Tages bei der Arbeit. Das ist aber immer eine ganz individuelle Frage. Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, den eigenen Sinn zu ergründen und zu schauen, wie man ihn langfristig verwirklichen kann. Wenn man das WARUM kennt, ist die Frage nach dem WIE und WO oft viel einfacher als gedacht.

Sinn oder nicht – ist nicht alles irgendwann einfach Routine?

Vieles in unserem Leben ist Routine. Das ist auch nichts Schlechtes: Routine gibt uns Struktur, Komfort und Sicherheit. Auch meine Arbeit beinhaltet tägliche Routinen, aber das Wissen und Verstehen um das Warum ich etwas tue, treibt mich an. Wenn ich mal einen Durchhänger habe, kann ich mir dieses Warum wieder vor Augen führen. Das gibt immer wieder Kraft und neuen Mut – auch für Routinen, die uns manchmal vielleicht lästig sind.

Sie haben das Finanzielle schon angesprochen. Müssen wir für mehr Sinn auf finanzielle Sicherheit verzichten?

Das ist ein weit verbreiteter Glaubenssatz. Wir leben in einem System, in dem wir Rechnungen bezahlen müssen, Mieten oder Raten. Dass wir Geld brauchen, ist daher schon mal eine Grundannahme. Meiner Erfahrung nach ist es nicht notwendig, auf finanzielle Sicherheit zu verzichten, um mehr Sinn und Erfüllung im Job oder Leben zu erfahren. Viele wechseln beispielsweise einfach in ähnlich lukrative Branchen oder Berufsbilder, die für sie aber passender sind. Wir müssen allerdings bereit sein, uns zu entwickeln und uns dabei auch von dem einen oder anderen hinderlichen Glaubenssatz verabschieden. Dazu ist der wichtigste Schritt, sie zu erkennen und sichtbar zu machen. Licht auf dunkle Flecken zu werfen ist der erste Schritt zur Veränderung.