Verantwortung übernehmen Digital Natives

Auf der Suche nach einer ganzen Generation

von Katharina Beitz

Alle sprechen über die Generation der Digital Natives. Und ich frage mich: Wachsen diese digitalen Profis eigentlich gerade im Kindergarten heran? Oder arbeiten die in ihren Büros schon längst an Problemen, die wir ohne sie nicht lösen können? Woher kommt eigentlich diese Bezeichnung und der Glauben an eine Generation, bei der alles besser wird? Digital Natives – ein Begriff für eine Generation, die keiner kennt, der aber visionäre Kräfte nachgesagt werden:

„Da kommen Leute und die sagen uns endlich mal, wie es weitergeht.“

So oder so ähnlich klingt es für mich immer, wenn Menschen über eine neue Riege digitaler Expert*innen diskutieren, die gerade noch die Schulbank drücken und bald die Welt verändern werden. Debatten darüber sehe ich in Talkshows, auf Bühnen und lese sie in renommierten Magazinen. Diese Diskussionen werden angeführt von einer Vision, der ich mich heute einmal im Kern widmen will. Diese Vision behauptet: “Bei denen ist alles schon ganz anders und durch sie wird alles ganz anders.”

Die Idee der “Digital Natives”

Ich hörte davon selbst das erste Mal auf der Schulbank und sollte zu selbiger Generation gehören. Neu fühlte sich das an, besonders und fortschrittlich. “Digital Natives” verstehen Digitalisierung und Technologien wie niemand vor ihnen. Etwas Einzigartiges passiert derzeit in der Weltgeschichte – so klang das damals in meinen Ohren. Alle Anstrengung, der wir gegenwärtig an unseren Schreibtischen begegnen, wird irgendwann einfach von uns abfallen. Nachfolgende Schulklassen dürften es noch häufiger, vermutlich noch eindringlicher hören:
Etwas wird sich ändern, denn die kommende Generation macht alles anders. Die Digitalisierung wird mit ihnen einen Wandel erleben. Niemals vor uns sind Menschen so flüssig und nahtlos mit Technologien umgegangen.

Wie ein Mythos der Digitalisierung entsteht

Alles begann mit Marc Prensky, Autor zahlreicher Pädagogik-Bücher, nicht unbedingt für Komplexität und psychologische Bandbreite, aber für simple Thesen und überzeugende Statements bekannt. Er wurde mit einem Schlag zu einem Analytiker unserer Zeit. Als Wortgeber der Digital Natives definierte er einen Umbruch, den viele selbst spürten und in dem sie nach neuen Begriffen suchten um diesen Wandel zu erklären. Die Generation der Digital Natives war nun ein großer Teil davon.

Das ist die Generation derer, die nahtlos Technologie und “echte Welt” verknüpfen, sich fluide hin und her bewegen und dabei kompetent und herausfordernd Neues erschaffen. Die digitale Welt wird reale Welt und endlich ergibt alles wieder Sinn. Applaus auf allen Rängen. Sie können alle Copy+Paste, über Spam-Mails lachen, klatschend das Licht an- und ausschalten  –  verheißungsvoll und vor allem problemlos würde die kommende Generation über Anwendungen sitzen, durch das Netz flanieren und das Leben wird so viel einfacher sein. So jedenfalls die Prophezeihung.

Was sind denn eigentlich digitale Kompetenzen?

Wir reden seither immer über Kompetenzen und Fähigkeiten und setzen auch hier voraus, dass jede*r versteht, was es heißt digital kompetent zu sein. In aller Kürze: kompetent ist, wer eigenständig das Internet durchsuchen und die gefundenen Informationen einordnen kann. Eigenständigkeit heißt auch Anwendungen bedienen zu können und dafür wenig Hilfe von Außen zu benötigen. Dazu gehört auch Fake News zu erkennen oder im Zweifel zu wissen, wo genau man zu einem Statement mehr Daten bekommt, auch mal die doppelte Quellensuche zu bemühen oder sogar die Erstellung eigener kleiner Anwendungen, die Nutzung des Schneeballprinzips und das Erlernen neuer Recherchemethoden. Kompetent heißt schlicht, vielfältig im Umgang sein. Aber dazu braucht es noch lange keine Brillianz oder Virtuosität.
Das Öffnen und Beantworten von E-Mails, das Anklicken von Links oder die Eingabe einfacher Copy+Paste Befehle zählen dabei als absolute Grundlage. Niemand, wirklich niemand würde behaupten, dass die Kenntnis von ein paar Tastaturkürzeln ausreicht um als Digital Native durchzugehen.

Wo sind sie denn jetzt, die Digital Natives?

Begeben wir uns auf die Suche. Demographische Studien geben uns eventuell Aufschluss, auf welchen Pfaden diese Generationen gerade wandeln. Eine der wichtigsten Forschungen in dem Bereich, wenn nicht die bedeutendste, ist die ICILS, die International Computer and Information Literacy Study. Sie vergleicht das Verhalten und das Handeln heutiger Achtklässler*innen auf internationaler Ebene und untersucht unsere Fähigkeit computergestützt zu denken und zu handeln – über Ländergrenzen hinweg. Alle 5 Jahre wird sie im großen Stil wiederholt. Die Datensammlung von über 130 repräsentativ ausgewählten Schulen auf der ganzen Welt ist einzigartig. Und so auch die Ergebnisse. Zwölf Jahre nach der Einführung des Konzepts der Digital Natives und fast genau vor einem Jahr wurde das Fazit dieser Forschung unter großen Fanfaren (jedenfalls für die akademische Welt) veröffentlicht.

Die Zahlen sprechen für sich. Nach den Maßstäben der oben genannten digitalen Kompetenzen sind diese allerdings schwer verdaulich. Nur 1,9% der heutigen Achtklässler*innen sind in der Lage selbständig zu recherchieren und gewonnene Daten richtig einzuordnen. Und etwa 18% der Schüler*innen können noch nicht einmal das gröbste Verständnis für Computer und Netzwerke aufbringen. Sie sind in hohem Maße auf externe Unterstützung angewiesen. Über 42% der Schüler*innen braucht konsequent Hilfe um digitale Prozesse und Informationen zu verarbeiten. So banal einer der wichtigsten Sätze der Studie auch klingt, so stürzt er doch das Konzept der Digital Natives in eine Existenzkrise:

“Junge Menschen entwickeln anspruchsvolle digitale Fähigkeiten nicht einfach dadurch, dass sie mit digitalen Geräten aufwachsen.” (ICILS 2019)

 

Die Lücke heißt Verantwortung

Trotz der eindeutigen Ergebnisse bleibt die Selbsteinschätzung der Schüler*innen eine ganz andere. Während die meisten von den eigenen Skills eine weitaus bessere Meinung haben als ihre Kompetenzen vermuten lassen, sind sie weniger bereit ihre Schwächen zuzugeben. Verständlich. Wer stets und ständig hört, wie gut er darin sein muss, einfach nur qua Lebensalter, erwartet von sich auch Großes. Daraus entstehen, und das lässt sich nun erahnen, noch ganz anders geartete Probleme. Die Fehleinschätzung führt zu hohen Abbruch- und Durchfallquoten innerhalb der IT-Fächer an Universitäten und vice versa. Das Eingeständnis kommt meist später im Job oder auf der Suche nach neuen Karrierewegen. Ich habe schon sehr viele Menschen kennengelernt, die erst sehr viel später in ihrem Leben eine Affinität zu Technologien entdeckten – auch ein Problem der fehlenden Selbsteinschätzung. Wir benutzen den Begriff der Digital Natives als Selbstverständlichkeit. Und aus allzu großer Selbstverständlichkeit wächst Ignoranz. Diese Ignoranz lässt uns Verantwortung abgeben – an eine Generation, die keiner kennt.
Kein Kind nach uns — ob in 10 oder 200 Jahren – wird als Digital Native geboren. Jeder muss sich dieses Wissen und das Bewusstsein immer wieder neu erarbeiten.

Das Konzept hinter diesem Buzzwords des Marketings ist nicht mehr als ein Märchen, das wir uns erzählen um uns vor der eigenen Verantwortung im Hier und Jetzt zu drücken. Die unkritische Wiederholung macht es zu einer großen Gefahr für unsere digitale Kompetenz, die wir so dringend brauchen um die jetzigen Probleme anzugehen.