Weltmutführerin

Beerdigt die „Cover your Ass“-Mentalität und werdet Weltmutführer!

von Philipp Depiereux

Täglich predige ich auf meinen Social-Media-Kanälen, auf Konferenzen, in Blogs und persönlichen Gesprächen, dass wir in Deutschland mehr Mut für den notwendigen Wandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft brauchen. Und auch wenn sich etwas bewegt, es fehlt an vielen Stellen Entschlossenheit. Die Unternehmen und Institutionen, die mit großer Passion und großem Mut voranschreiten, stellen nämlich noch immer die Ausnahme dar. Um den notwendigen Wandel aktiv gestalten zu können, müssen wir unsere Komfortzone verlassen und alles infrage stellen. Ein Grund, warum sich das in Deutschland so mühsam gestaltet, sind Entscheiderinnen an großen Schalthebeln, denen der Mut (bereits für Diskussionen!) fehlt. Denn wer neue Wege geht, kann scheitern. Wer scheitert, hat versagt. Und das ist in Deutschland ein Makel.

„Cover your Ass“-Position verlassen

Mut machen die CEOs, die den digitalen Wandel in ihrem Unternehmen vorantreiben, die durch den Schmerz gehen und einen nachhaltigen Blick auf ihre Unternehmenskultur, ihr Geschäftsmodell und ihr Mindset haben. Entscheiderinnen, die nicht auf ihren aktuellen Vertrag, ihre Bonus-Vereinbarung und die kurzfristigen KPIs schauen, sondern den langfristigen Fortbestand ihres Unternehmens im Blick haben. Gisbert Rühl zum Beispiel verfügt über eine Anti-„Cover your Ass“-Mentalität. Der Vorstandsvorsitzende ging in der frühen Digitalisierungsphase des Stahl- und Metallhändlers Klöckner & Co. SE durch einen großen Schmerz. Denn Mitarbeiterinnen, Kundinnen, Aufsichtsrat, Analystinnen und Presse gingen nicht zimperlich mit jedem Rückschritt um. Der Schmerz aber hat sich gelohnt. Das Unternehmen hat in einem sehr schwierigen Marktumfeld jetzt alle Optionen, langfristig als DER Gewinner hervorzugehen. So agieren jedoch die wenigsten Entscheiderinnen.

Kampf gegen Konventionen

Mut machen auf diesem Weg Anti-„Cover your Ass“-Geschichten wie beispielsweise eine, die sich in einem Konzern mit über 10.000 Mitarbeiterinnen in Deutschland abgespielt hat. Bei einem Besuch in der Zentrale trug ich wie so häufig Sneakers, Jeans und Anti-Trump-T-Shirt. Im Gespräch mit einer Marketing-Mitarbeiterin des Unternehmens kam heraus, dass sie die lockere Kleiderordnung bei etventure sehr cool fände. Sie hingegen müsse leider immer dunkle Hosenanzüge tragen und würde sich in diesen sehr unwohl fühlen. Auf meine Frage, ob sie denn schon einmal mit ihrem (männlichen) Vorgesetzten über einen lockeren Dresscode am Arbeitsplatz gesprochen hätte, entgegnete sie, dass das in dieser konservativen Branche eh nichts bringen würde.

Wer mich kennt, weiß, dass das eine Haltung ist, die ich nur sehr schwer akzeptieren kann. Daher ermutigte ich sie, das Gespräch mit ihrem Chef zu suchen, um ihm ihre Position darzulegen und über das „Warum“ zu sprechen. Drei Wochen später erhielt ich eine E-Mail der Mitarbeiterin, in der sie sich für meinen Rat bedankte und ein Selfie vom Arbeitsplatz mitschickte: sie trug ein rotes T-Shirt, einen Rock und Sneakers. Sie konnte sich mit ihrem Chef darauf einigen, dass sie lediglich bei Kundenterminen den konservativen Dresscode einhalten muss und sich ansonsten legerer kleiden darf. By the way: Die Mitarbeiterin hat nur sehr wenige Tage im Monat Kundenkontakt.

Ran an die Core Values

Wir alle legen Wert auf einen respektvollen Umgang miteinander. Wir alle wollen von Kolleginnen, Mitarbeiterinnen und Vorgesetzten gut behandelt und gehört werden. Wie oft passiert es dennoch, dass wir uns schlecht fühlen, weil uns jemand nicht gut behandelt hat. Wie oft lassen wir Druck, Emotionen und Unzuverlässigkeit über uns ergehen, sprechen nicht offen darüber, stehen nicht für unsere Prinzipien und Einstellungen, die sogenannten Core Values, ein. Neben dem freundlichen Miteinander sind eine Diskussionskultur sowie transparente Entscheidungen enorm wichtig. Dazu gehört auch, Vorgesetzten durch Kritik überhaupt die Chance zu geben, an ihrem Führungsstil und ihren Entscheidungen arbeiten zu können. Und werden die schön an die Wand geschriebenen Core Values im Unternehmen nicht gelebt oder sogar verletzt, müssen Mitarbeiterinnen in die Offensive gehen und aktiv für sie einstehen!

Ich kann mich noch sehr gut an einen Conference Call in großer Runde mit meinen Kolleginnen aus HR und Management erinnern, bei dem ich auf einen nicht zufriedenstellend gelösten Sachverhalt sehr emotional reagierte. Nach dem Conference Call rief mich ein HR-Mitarbeiter an und teilte mir seine Gefühle mit: er war verletzt, fand mein Verhalten unangemessen und nicht unseren etventure-Core Values entsprechend. Ich entschuldigte mich für mein unangemessenes Verhalten und teilte das auch meinen Kolleginnen aus dem Management mit. Anschließend erläuterte ich dem Mitarbeiter – nun empathisch und ohne starke Emotionen – meine Kritik an der HR-Arbeit in diesem besonderen Fall. Wir zeigten sehr schnell Verständnis füreinander und ich konnte mein Vorgesetztenverhalten nach der Build-Measure-Learn-Methodik verbessern.

Der Schlüssel zur Veränderung ist Engagement

Der HR-Kollege hat mit seiner Anti-„Cover your Ass“-Mentalität nicht nur mir geholfen, sondern auch sich selbst und unserem Unternehmen – eine Win-win-win-Situation! Hätte es kein „Win“ gegeben, weil ich nicht einsichtig gewesen wäre – hätte ich also unsere Core Values als CEO selbst nicht gelebt – wäre mein Unternehmen wohl für ihn und alle seine Kolleginnen ein schlechter Arbeitsplatz!

Der Schlüssel zur Veränderung ist Engagement. Dass (fast) alles möglich ist, zeigt Greta Thunberg: Sie startete ihren Protest ganz allein mit einem Plakat – aber mit einem klaren Plan. Und setzte so weltweit (!) eine Bewegung in Gang. Sie tat das Gegenteil von „Cover your Ass“ und verließ ihre Komfortzone. Noch immer agiert sie empathisch, mutig und durchsetzungsstark, jeden Tag! Was Greta kann, kann jede Einzelne auch.

Ob CEOs, Sportler-, Influencer-, Experten- oder Meinungsmacherinnen, vielen geht es leider zu oft um ihre Absicherung, die aber gleichzeitig für Stillstand sorgt. Sie haben Angst vor dem Shitstorm, der möglicherweise auch auf sie einprasseln könnte. Sie sorgen sich, dass ihre Verträge nicht verlängert werden, Bücherkäufe einbrechen, Einschaltquoten zurückgehen oder die Followerinnen-Anzahl massiv sinkt.

Wir brauchen aber dringend eine Diskussionskultur, um unangenehme Themen ansprechen und offen kommunizieren zu können. Denn das ist die Basis dafür, den Wandel unter den Aspekten zu gestalten, die uns wichtig sind – im Kontext unserer Werte. Dafür müssen wir unsere Konformität aufgeben und unsere Komfortzone verlassen, wir müssen aufstehen und handeln. Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft müssen ihre Vorbildfunktion ausüben. Wir müssen alle Weltmutführerinnen werden.

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