Dr. Dirk Gratzel ist CEO und Mitgründer des Unternehmens Precire, das Künstliche Intelligenz über die Sprache mit der Psychologie, den Emotionen und Eigenschaften eines Menschen vertraut machen will, um die Probleme der Zukunft zu lösen. Neben seinem Unternehmen treibt er aber auch privat ein großes Projekt voran: Er will sich aus dieser Welt mit einer ausgeglichenen Ökobilanz verabschieden und seinen Kindern und nachfolgenden Generationen nicht seine CO2-Sünden hinterlassen. Zu diesem Thema sprach er mit der Montagshappen Redaktion.

1. Herr Gratzel, es ist völlig klar, dass wir auf Kosten nachfolgender Generationen leben. Ist es utopisch zu denken, dass das auch anders geht?

Das ist überhaupt nicht utopisch. Der nachhaltige Weg ist meiner Erfahrung nach eigentlich immer der qualitativ bessere und ist nicht nur für unser Lebenssystem akzeptabler, sondern macht am Ende sogar glücklicher. Was aber zum jetzigen Zeitpunkt noch fehlt oder nicht weit genug verbreitet ist, sind Informationen darüber, welche konkreten Auswirkungen unsere Lebensweise hat. Außerdem haben wir noch keine passenden Strategien und Konzepte, um es besser zu machen. Die Technologien, die wir dafür benötigen sind noch nicht ausgereift oder noch nicht weit genug verbreitet. Der politische und auch ökonomische Wille fehlt sicher auch noch an der ein oder anderen Stelle, aber ich bin mir sicher und optimistisch, dass wir diese Probleme gelöst bekommen. Einziger Knackpunkt ist die Zeit, die gegen uns läuft. Themen wie die Feinstaubentwicklung und Co. bekommen wir sicher in den Griff. Lassen wir aber beispielsweise zu, dass der Großteil der Tierarten ausstirbt, kippt es irgendwann wie in jedem Ökosystem.

2. Sie haben sich entschieden, Ihren fünf Kindern keine ökologischen Schulden zu hinterlassen. Was bedeutet das genau und wie verfolgen Sie dieses Ziel?

Als Unternehmer war ich natürlich viel unterwegs und hatte einen entsprechenden Lebensstil, dadurch aber auch eine erschreckende Ökobilanz, die genaue Zahl kannte ich aber erst später, im Laufe des Projektes. Angefangen hat alles als meine Kinder älter und die Diskussionen politischer wurden. Nachhaltigkeit und Ökologie waren immer wieder ein Thema und ich wollte etwas tun, aber wusste noch nicht was. Ich habe nach einer Strategie oder einem Konzept gesucht, klimaneutral zu leben, aber es gab noch keines. Daher habe ich zunächst einmal gemeinsam mit Wissenschaftlern der TU Berlin, rund um Professor Finkbeiner, eine Aufstellung meines gesamten Besitzes und Verhaltens gemacht, um meine Bilanz zu ermitteln. Ein Ergebniss war, dass ich bisher 1.175 Tonnen CO2 emittiert hatte. Außerdem hatte ich bis dahin durch Reinigungs- und Waschmittel etwa 600 Kilo Phosphat in Gewässer eingebracht.

Um den weiteren Schaden so gering wie möglich zu halten, war der nächste Schritt die Optimierung meines gesamten Lebens. 65 Maßnahmen haben die Wissenschaftler definiert: Von der Ernährung, über die Kleidung bis zur Dämmung des Hauses. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht alle umgesetzt habe. Es sind nur 64 beziehungsweise 63,5. Meinen Hund habe ich behalten, aber dafür auch seine Ernährung umgestellt – er bekommt jetzt kein gekauftes Hundefutter mehr, sondern selbst gejagtes ­– und auf Kaffee kann ich, zumindest noch nicht, verzichten.

3. Die wichtigste Komponente, sowohl für Ihre Ökobilanz, aber auch sicher für Sie als Unternehmer ist die Fortbewegung. Wie hat das Ihr Berufs- und Privatleben verändert?

Ja, Flugreisen sind tatsächlich für die eigene Ökobilanz dramatisch, daher habe ich meinen Reiseaufwand insgesamt reduziert, etwa um 60 Prozent. Trotzdem bin ich zeitlich genau so viel, wenn nicht länger unterwegs, da ich durch den Umstieg auf die Bahn deutlich länger brauche, teilweise doppelt so lange. Das erfordert eine genauere Planung und auch mehr Gelassenheit, aber ich versuche diese Zeiten sinnvoll zu nutzen und kann von unterwegs Dinge erledigen, zu denen ich sonst nie gekommen bin. Und da ich schon viel von der Welt gesehen habe und auch wegen des Hundes, verbringen wir unseren Urlaub gerne in den Alpen. Südtirol ist in Sachen Nachhaltigkeit eine echte Innovationsregion.

4. Ihr Ziel ist, dass am Ende tatsächlich eine Null in Ihrer Bilanz steht. Die reine Optimierung reicht daher nicht. Was sind die nächsten Schritte, um den bisherigen Schaden zu kompensieren?

Den Begriff der Kompensation vermeide ich. Denn dann könnte man es sich auch einfach machen: doch fliegen und sich mit einer Geldsumme an eine Umweltorganisation sein Gewissen erleichtern. Das ist nicht mein Weg. TU, WWF und NABU sind dabei, ein Konzept für aktive Maßnahmen zu entwickeln, die ich in Angriff nehmen kann. Denn auch das gibt es bisher noch nicht. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise die Wiedereinnässung von Mooren. Das ist effizienter als Wälder wiederaufzuforsten. Dann müsste ich entsprechende Wiesen ankaufen und renaturieren.

5. Das klingt nach einem enormen Kostenfaktor. Meinen Sie trotzdem, Ihr Modell ist auch ein Modell für andere?

Dass das Projekt solche Ausmaße annimmt, damit hatte ich zu Beginn auch nicht gerechnet. Schon mit dem Forschungsprojekt selbst nicht. Ich dachte, diese Informationen gäbe es alle längst. Am Ende wird das Projekt vermutlich soviel Geld kosten, wie ich in meinem bisherigen Leben als Ersparnis angehäuft habe, was ja auch irgendwie ein interessanter Aspekt ist. Ich möchte das Projekt gerne abschließen, habe es daher auch extra ins Testament aufgenommen und hoffe natürlich, dass andere dadurch zumindest Informationen oder Anregungen für ihr eigenes Leben bekommen. Das fängt ja schon bei ganz einfachen Dingen an, die auch gar nicht oder nur kurzfristig teurer sind, aber nachhaltiger. Und sollte ich es tatsächlich schaffen, meine Ökobilanz auszugleichen, wäre es auch noch ein Beweis, dass es möglich und machbar ist. 100 Meter unter 10 Sekunden zu laufen galt schließlich auch lange als unmöglich und heute schaffen es so viele.