Menschen mit Behinderungen werden beim Thema Mode zum Großteil ausgegrenzt. Dass sich dies ändern muss, ist für Janina Urussowa nicht nur ein soziales Anliegen. Die Gründerin von Bezgraniz Couture sieht im Thema „inklusive Mode“ einen Markt mit riesigem Innovations- und wirtschaftlichem Potenzial, wie sie im Montagshappen-Interview verrät.   

Warum ist es heute wichtiger denn je, dass die Fashion-Industrie Menschen mit Behinderung als neue Zielgruppe entdeckt?

„Kleider machen Leute“. Jeder von uns will schön aussehen, sozial angemessen gekleidet sein, schick und professionell wirken. Unsere Kleidung macht uns stark, schafft gute Laune. Doch Menschen mit Behinderung haben ein zusätzliches Handicap zu meistern, wenn es um Kleidung geht, die einem sozialen Anlass angemessen und bequem ist und vor allem gut aussieht. Ob Vorstellungsgespräch, Büroalltag oder Feierlichkeiten, alleine durch die Bekleidung fühlen sich Menschen, die mit Behinderungen leben, ausgegrenzt – ganz abgesehen davon, dass die Funktionalität der Kleidung von der Stange nicht ihren Bedürfnissen entspricht und Nähte und Reißverschlüsse bei ihnen gar oftmals zu gesundheitlichen Schäden führen. In dem Thema steckt also dringender sozialer Handlungsbedarf – aber auch ein enormes wirtschaftliches Potenzial: Wir reden hier von rund 1,3 Milliarden Menschen, die von der Teilhabe am Modemarkt ausgeschlossen sind, die jedoch zusammen mit ihren Familien und emotional verbundenen Freunden über ein jährliches verfügbares Einkommen von mehr als acht Billionen US-Dollar verfügen. Allein in Deutschland mit rund 7,8 Millionen Menschen mit Behinderung könnten jährlich etwa 9,6 Milliarden Euro zusätzlich in den Konsum fließen, wenn entsprechende Produkte und Services angeboten würden.

Wie entwickelt sich das Thema inklusive Mode bei den Modefirmen und -Designern?

Ich beobachte den Markt der adaptiven Mode seit 2009. Zu dieser Zeit war die Kanadierin Izzy Camilieri die einzige Modedesignerin, die sich der modischen funktionalen Bekleidung für Menschen im Rollstuhl gewidmet hat. Danach hat Bezgraniz Couture Maßstäbe gesetzt: 2011 und 2012 führten wir die ersten internationalen Fashion Awards in Moskau durch. Und nach dem durchschlagenden Erfolg unserer inklusiven Shows bei der Mercedes-Benz Fashion Week 2014 in Moskau wurden Models mit Behinderung ein Muss für die internationalen Catwalks, was die neue Zielgruppe wortwörtlich in ein neues Licht rückte. In den letzten zwei, drei Jahren haben Brands wie Tommy Hilfiger, Nike, Asos oder Marks & Spencer die Zielgruppe für sich entdeckt. Online Retailer wie Target und Zappos vertreiben seit 2017 kleinere Marken – etwa ABL-Denim und Able2Wear. Diese sind vorwiegend von Menschen mit Behinderung oder deren Familienmitglieder entwickelt worden.

Warum erfährt das Thema jetzt eine gesteigerte Aufmerksamkeit?

Dies liegt zum Großteil an der Generation Z. Diese jungen Menschen sind hineingeboren in eine Welt, in der Technologien es möglich machen, ungeachtet der körperlichen oder geistigen Limitationen ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen: Apps befähigen blinde Menschen, die Farben der Kleidung zu unterscheiden, Rollstühle steigen Treppen, Prothesen werden von den Signalen im Gehirn gesteuert und so weiter. Das Internet ermöglicht zudem die Teilhabe am Arbeitsleben und soziale Netzwerke helfen, Gleichgesinnte zu finden und sich auszutauschen. All dies hat dazu geführt, dass sich ein neues Mindset verbreitet. Die jungen Menschen von heute definieren sich nicht über ihre Behinderung. Sie arbeiten, reisen, wollen sich zeigen, sie wollen modisch und cool sein.

Menschen der Generation Z sind somit die Hauptzielgruppe von inklusiver Mode?

Sie gehören eindeutig zu einer der Kernzielgruppen. Die zweite Kernzielgruppe bildet die einkommensstarke Generation der Babyboomer: Sie wächst von 530 Millionen Menschen in 2010 auf 1,5 Billion Menschen in 2050. Die Mitglieder der Generation 55+ werden noch viele Jahre jung bleiben und aktiv sein wollen beziehungsweise müssen. Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen wird für sie dabei immer wichtiger. Zudem wird hier die Nachfrage nach zeigemäßen, funktionalen coolen Produkten steigen. Der orthopädische „Oma-look“ ist für sie nicht sexy.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft bezüglich des Themas inklusive Mode?

Auch wenn der Markt für Behinderungen ein weltweit aufstrebender Markt ist, wissen wir immer noch zu wenig über die neuen Kunden. Was sind ihre Bedürfnisse als Konsumenten der modischen Produkte und Services, wie sieht ihr Kaufverhalten aus? Es ist höchste Zeit für profunde Marktforschung und Produktentwicklung, für die Gestaltung vom barrierefreien Einkaufserlebnis online wie offline. Auch sollten die Hochschulen die Ausbildung von Fachleuten für den inklusiven Markt fördern. Ziel ist, funktionale modische Produkte zu kreieren, die die neuesten Entwicklungen in Fashion Tech, Smart Textilien, IoT und Wearables vereinen, um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung zu steigern.