Mitbegründer und Vorsitzender des Deutschen Knigge-Rates Rainer Wälde möchte vom Basteln am Ego, den Fokus wieder mehr auf das wir legen und spricht im Montagshappen-Interview über Benehmen und warum wir uns gerade in öffentlichen Räumen, wie einem Bahnabteil, immer wieder gegenseitig auf die Füße treten.
Anonyme Trolle im Internet gibt es schon lange. Nun könnte man meinen, in Zeiten von Trump & Co. sei Unhöflichkeit gesellschaftsfähig geworden. Sehen Sie das auch so?
Generell könnte man sagen, wir basteln heute zu viel am Ego und zu wenig am wir. Das ist aber nicht erst seit Trump so, sondern den Eindruck habe ich bereits seit knapp zehn Jahren. Internet und Social Media haben das sicherlich begünstig. An der „Geiz ist geil“-Kampagne konnte man deutlich sehen, dass sich die Werte verändert haben: Es kommt nur noch auf den Preis an, auf den eigenen Vorteil, wenn es vorher noch galt, für eine gute Beratung im Fachgeschäft auch etwas mehr zu zahlen. Trump ist nur eine Fortführung dieses Egotrips. Das muss nichts Schlimmes sein, wenn er die Ausnahme ist. Einen Trump hält jede Dorfgemeinschaft oder jedes Unternehmen aus. Nur, wenn alle so sind, haben wir ein Problem. Wenn jeder nur seinen Vorteil sucht, ohne Rücksicht auf Verluste, gibt es keine langfristige Partnerschaft. Dann habe ich vielleicht einmal einen Vorteil, aber nachhaltig ist das nicht. Daher bin ich ein Fan vom hanseatischen Understatement und der vornehmenden Zurückhaltung, durch die beispielsweise langfristig erfolgreiche Handelsbeziehungen entstehen. Mein Leitsatz lautet daher, mein Gegenüber mehr zu achten als mich selbst. Es ist besser, sich nicht so wichtig zu nehmen und sich selbst auch mal auf die Schippe nehmen zu können.
Sie sind Vorsitzender des Deutschen Knigge-Rates. Knigge wird häufig mit Tischmanieren in Verbindung gebracht. Es geht Ihnen aber um mehr als das richtige Besteck zu wählen, oder?
Adolf Knigge ging es vor allem um den richtigen Umgang mit Menschen, darum, unsere Herzenshaltung zu trainieren. Mir und uns geht es daher gar nicht darum, dass wir im Umgang miteinander bloß jedes Fettnäpfchen umschiffen. Man kann Fehler machen, wenn die Herzenshaltung stimmt. Wir verstehen uns daher als Vertreter von Werten, denn Menschen, die eine klare Wertehaltung haben, versuchen allen auf Augenhöhe zu begegnen. Bei der Gründung des Rates vor zwölf Jahren hatten wir bereits befürchtet, dass sich die Egokultur verstärken wird, wir haben Trump quasi vorausgesehen. Und wir wollten zu einer Renaissance von Werten wie Respekt und Wertschätzung etwas beitragen. Dafür übersetzen wir sie in konkrete Alltagstipp für die Hochzeitsfeier, das Meeting, die Mittagspause oder die Bahnfahrt.
Sie haben die Bahnfahrt gerade angesprochen. Für viele ein Quell des Ärgers über Verspätungen, aber vor allem auch über andere Fahrgäste. Können Sie das erklären?
Ein Zug ist ein öffentlicher Raum. Was wir im öffentlichen Verkehrsbereich beobachten, hat immer mit Revierverhalten zu tun und dem eigenen Distanzbereich. In dreißig Sekunden wird das Revier markiert: mit einem Gepäckstück auf dem Nachbarsitz, der Zeitung auf dem Sitz gegenüber, dem Kaffeebecher auf dem Tisch und was wir sonst noch so zur Hand haben. Wer nicht alleine wohnt, hat auch zu Hause sein Revier: den eigenen Hobbybereich oder Schreibtisch, die Kommode am Bett oder einen Platz, auf dem immer wir sitzen.
Jeder, der den Reviermarkierer in der Bahn passiert, erkennt dieses Verhalten, Läuft in der Regel vorbei und sucht sich einen freien Bereich, um das eigene Revier aufzubauen. Das entspricht unserem Distanzverhalten. Nun zwingen uns volle Züge und das Festhalten an Sitzplatzreservierungen dazu, dass sich, wenn es schlecht läuft, fünf fremde Leute in der eigenen, intimen Distanzzone befinden. Das ist eine unerwünschte Situation, in der man am liebsten fliehen würde. Das alleine sorgt in der Regel schon für Unmut.
Und dann kommen ja noch die dazu, die sich nicht an die Regeln eines ausgewiesenen Ruheabteils halten. Wie geht man in solchen Situationen am besten vor?
Als erstes sollte man immer mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn ich im Ruheabteil sitze und mich ein Anruf erreicht, gehe ich raus auf den Gang und nehme den Anruf erst dort entgegen. Diesem Beispiel folgen dann häufig einige. Andersherum, wenn sowieso schon jemand lautstark telefoniert und niemand etwas sagt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste einen Anruf entgegennimmt deutlich höher.
Es gibt ja wirklich nicht besonders viele explizite Regeln. In einigen Regionalbahnen gibt es noch Piktogramme zum Thema „Füße auf der Sitzfläche“ etc. Mittlerweile spreche ich Menschen, die die Regeln des Raumes brechen, direkt an: „Macht es Ihnen etwas aus, Ihre Kopfhörer zu benutzen/die Töne Ihres Handys auszuschalten/draußen zu telefonieren…“. Ich mache das sehr diskret, aber halte Blickkontakt. Wenige platzen raus und fangen an zu diskutieren. Auch dann sollte man versuchen, sachlich zu bleiben. 95 Prozent lenken aber direkt ein. Vielleicht sind sie kurz irritiert, aber sie merken, dass die Gruppe der gleichen Meinung ist. Die sind froh, dass einer den Mund aufgemacht hat.
In hierarchischen Strukturen stelle ich es mir schwerer vor, solche Situationen anzusprechen, vor allem, wenn es um den Chef oder die Chefin geht. Sie beraten viele Unternehmen. Sehen Sie das auch so?
Auf Führungsebene ist oder sollte zumindest immer ein wichtiges Thema sein: Wie gehen wir mit Mitarbeitern und Kunden um, vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels? Wie zeigen wir Wertschätzung? Dafür muss jedes Unternehmen seinen eigenen Weg finden. Lidl hatte beispielsweise lange eine eher distanzierte Unternehmenskultur, man siezte sich untereinander. Dann beschloss der deutsche Geschäftsführer: Ab sofort wird geduzt. Aber funktioniert das von oben herab oder ist es nicht besser, beim Sie zu bleiben, das Teil der Kultur ist? Auf jeden Fall ist diese Änderung diskussionswürdig. In der Medienbranche, in der ich mich schon seit 1987 bewege, ist das völlig anders. Da wird man immer sofort von jedem geduzt.
Aber generell gilt: Im Business-Alltag ist das Sie noch immer Ausdruck einer Wertschätzung. Die Regel, wer wem das Du anbieten kann sind übrigens deutlich verschieden, je nach privatem oder geschäftlichem Kontext. Gilt es im privaten Umfeld, dass Frauen den Männern das Du anbieten und Ältere den Jüngeren, geht es im Business-Kontext rein um die Hierarchie oder darum, wer Dienstleister ist und wer Kunde. In letzterem muss der Kunde das Du anbieten.