Sich gesund zu ernähren – das steht in Verbindung mit Fitness und einem achtsamen Umgang mit sich selbst. Doch bei manchen Menschen wird die gesunde Ernährungsweise zum Zwang und macht regelrecht krank. Orthorexie nennt sich das Störungsbild. Wir von den Montaghappen wollten mehr dazu erfahren und haben Dr. Friederike Barthels befragt, die sich intensiv mit dem Phänomen beschäftigt.

Frau Dr. Barthels, gesund zu essen ist für viele Menschen heutzutage wichtig. Für manche ist gesunde Ernährung aber so wichtig, dass sie zum Zwang wird. Sie forschen über dieses Phänomen, das sich Orthorexie nennt. Wie macht es sich bemerkbar?

Die Betroffenen entwickeln eine gedankliche Fixierung auf gesunde Ernährung. Das heißt, sie beschäftigen sich viele Stunden am Tag damit, wie sie ihre Mahlzeiten optimal planen und zubereiten. Sie stellen Ernährungsregeln auf, in denen genau definiert ist, welche Lebensmittel in welcher Qualität – gegebenenfalls von welchem Anbieter – sie wann essen dürfen beziehungsweise welche Lebensmittel aus ihrer Sicht als ungesund gelten und demnach „verboten“ sind. Die Betroffenen halten sich sehr streng an ihre selbst aufgestellten Regeln. Dafür nehmen sie Einschränkungen in Kauf, sagen zum Beispiel Einladungen zum Essen ab. Wenn sie Ernährungsregeln mal nicht einhalten, entwickeln die Betroffenen Schuldgefühle und Ängste. Sie sorgen sich dann vor allem um ihre Gesundheit, da sie befürchten, krank zu werden, sobald sie etwas aus ihrer Sicht Ungesundes gegessen haben.

Ab wann spricht man letztlich von einem kranken zu gesundem Ernährungsverhalten?

Einen Krankheitswert bekommt eine bestimmte Verhaltensweise erst dann, wenn die Betroffenen darunter leiden. Das kann entweder auf psychischer Ebene sein, wenn zum Beispiel aufgrund der eingeschränkten Ernährungsweise soziale Zusammenkünfte mit gemeinsamen Essen vermieden werden. Die Betroffenen ziehen sich immer mehr zurück. Teilweise isolieren sie sich von anderen und können ihrem privaten sowie beruflichen Leben nur noch mit Einschränkungen nachgehen, weil sie sich durch ihre Regeln selbst einschränken. Möglicherweise können sie sich im Beruf oder bei Freizeitaktivitäten auch nicht mehr so gut konzentrieren und verlieren die Freude daran. Obwohl die Betroffenen sich immer mehr von ihren eigenen Ernährungsregeln eingesperrt fühlen, schaffen sie es nicht, diese „einfach“ zu lockern oder abzulegen. Es können sich aber auch körperliche Folgen bemerkbar machen.

Welche zum Beispiel? Welche körperlichen Folgen hat die Orthorexie?

Für den Fall, dass das Ernährungsverhalten mit der Zeit immer eingeschränkter und einseitiger wird, können Symptome einer Mangelernährung auftreten. Unter Umständen verlieren die Betroffenen an Gewicht, da die Kalorienzufuhr eingeschränkt wird. Auch kann eine Unterversorgung mit bestimmten Vitamin- und Mineralstoffen auftreten, die dann entsprechende körperliche Symptome hervorruft.

Wie viele Menschen in Deutschland leiden unter Orthorexie, und gibt es sozusagen ein Profil der Gefährdeten?

Da bislang unklar ist, ob die Orthorexie überhaupt ein klinisch relevantes Störungsbild ist, gibt es keine Diagnosekriterien. Deshalb kann nicht genau gesagt werden, wie viele Menschen in Deutschland unter Orthorexie leiden. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass ein bis drei Prozent der Menschen hohe Orthorexie-Werte haben, – also möglicherweise gefährdet sind, ein orthorektisches Ernährungsverhalten zu entwickeln. Eine genaue Diagnose kann aber nur in einem persönlichen Gespräch mit entsprechenden klinischen Interviews gestellt werden. Es wird vermutet, dass mit entsprechenden Diagnosemöglichkeiten weniger als ein Prozent der Deutschen klinisch relevante Auffälligkeiten in Richtung einer Orthorexie zeigen. Dabei scheinen tendenziell mehr Frauen betroffen zu sein. Eine eindeutige wissenschaftliche Aussage ist bezüglich des Geschlechterunterschieds aber nicht möglich.

Ist der allgemeine Optimierungswahn schuld am zwanghaft gesunden Leben – oder was sind Ihrer Erkenntnis nach die Gründe?

Gesellschaftliche Trends können zwar durchaus eine Rolle spielen, aber sie sind wahrscheinlich selten alleinige Auslöser. Bisher gibt es kaum systematische Untersuchungen zu den möglichen Gründen. Vorläufige Studienergebnisse sowie Erkenntnisse aus Fallberichten deuten auf vielfältige Aspekte hin, die möglicherweise zur Entstehung des Phänomens beitragen. Dies sind unter anderem Angst, aufgrund von ungesunder Ernährung zu erkranken, das Bestehen einer Essstörung, wie zum Beispiel einer Anorexie, und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, etwa Perfektionismus. Aber auch andere Faktoren wie allgemeine Orientierungslosigkeit im Leben und Sinnsuche, die Informationsvielfalt zum Thema „gesunde Ernährung“ und die Schwierigkeit, als Verbraucher beziehungsweise Verbraucherin zu entscheiden, was für einen persönlich „gut“ ist, können mögliche Gründe darstellen.