Wir schwelgen oft in Erinnerungen – und je älter wir werden, desto mehr ist dies der Fall. Wir wollten von Prof. Dr. med. Reinhard Lindner, Experte für Alterspsychotherapie und Leiter der Arbeitsgruppe „Psychosomatik“ bei der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG), wissen, wie das so ist mit der Erinnerung im Alter.
1. Je älter man wird, desto mehr erzählt man von vergangenen Zeiten. Warum ist das so?
Dazu gibt es sowohl neurobiologische als auch psychologische Erklärungen. Neurobiologisch ist uns allen das nachlassende Kurzzeitgedächtnis bei kognitiven Störungen vertraut. Aber nicht jeder alte Mensch entwickelt eine Demenz. Und trotzdem sprechen auch alte Menschen, die nicht kognitiv beeinträchtigt sind, häufiger über die Vergangenheit. Das hat damit zu tun, dass alte Menschen sehr mit der Verarbeitung ihrer Lebensgeschichte auf bewusster und unbewusster Ebene beschäftigt sind. Es geht um die Bedeutung des Blicks zurück, welche mit zunehmenden Alter zunimmt. Es gibt ein Bedürfnis des Menschen, eine kongruente Vorstellung – eine zusammenhängende Vorstellung – von sich und seinem Leben und seiner Lebensgeschichte zu gewinnen. Menschen leiden darunter, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Leben als ein zusammenhängendes Ganzes zu sehen. Mit allen Bedingungen, unter denen man lebte, und den Begründungen, warum man sich für oder gegen bestimmte Entwicklungen entschieden hat. Menschen wünschen sich, damit umgehen zu können.
2. Leben alte Menschen insgesamt eher in der Vergangenheit als im Heute?
Nein, wir leben alle jetzt. Wir können gar nicht anders leben als im Heute. Insofern ist die Frage nach dem Leben in der Vergangenheit eher metaphorisch zu verstehen. Nur in Situationen demenzieller Prozesse kann es vorkommen, dass man real existierende Umwelten – das heißt Menschen oder Lebensbedingungen, beispielsweise auch die Anwesenheit in einem Krankenhaus – verwechselt mit einer Situation in der Vergangenheit. Eigentlich leben wir immer im Hier und Jetzt und das hat größten Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Für ältere Menschen ist es dennoch aus psychologischen und hirnorganischen Gründen wesentlich wichtiger, den Blick zurück in die Vergangenheit zu richten.
3. Welche Art von Erlebnissen werden im Alter am meisten bzw. besten erinnert?
Die gute Botschaft dazu ist, dass psychisch gesunde alte Menschen besonders gern gute Erlebnisse erinnern. Unsere Psyche verändert sich im Alterungsprozess, der ein organischer und ein psychologischer Prozess ist: Man sieht die Vergangenheit in einem angenehmeren Licht. Auch wenn genau diese Erinnerungen in der realen Vergangenheit gar nicht positiv waren. Die weniger gute Botschaft ist, dass sich bei Menschen mit psychischen Problemen die Erinnerungen verstärkt an den schlimmen Erlebnissen festhalten können. Das gilt für Menschen, die früher psychische Probleme hatten, genauso wie für jene, die in Kindheit und Jugend traumatisierenden Erfahrungen ausgesetzt waren. Diese Menschen tragen ihre traumatischen Erfahrungen scheinbar eingekapselt in sich.
4. Wird die Vergangenheit im Alter nicht auch oft verklärt?
Ja, genau das ist das Prinzip, nach dem alte Menschen besser leben, und das sich mit Darwin wohl auch so durchgesetzt hat. Wir können mit den Erinnerungen an ein langes Leben im Alter besser zurechtkommen, wenn sich „der Mantel der Liebe“ und das positive Denken daran über vieles deckt. Auch wenn es früher real ganz anders erlebt wurde. Es hat wahrscheinlich auch neurobiologische und neuropsychologische Hintergründe, dass entsprechende Hirnareale alterungsbedingt aktiviert sind.
5. Kommt es auch vor, dass verdrängte traumatische Erlebnisse erst im hohen Alter hochkommen?
Ja! Und das hat gerade in der Geriatrie eine besondere Bedeutung. Viele traumatische Ereignisse, seien sie zum Beispiel sexueller Art oder Gewalterfahrungen, graben sich in der Erinnerung auch in körperliches Erleben ein. Wenn dann gerade im Alter körperliche Veränderungen auftauchen, unter denen man leidet – durch Krankheiten oder geriatrische Syndrome – dann kann genau dieser Link wiederhergestellt werden und der Mensch fühlt sich so wie damals. Er hat also dieselben Gefühle wie zur Zeit der traumatischen Erfahrung und dann kommen im Anschluss auch die Erinnerungen daran alle wieder hoch. Der psychotherapeutische Ansatz versucht, diese Zusammenhänge zu verstehen und mit dem Patienten wieder einzuordnen.