Ein Strand im Osten Mallorcas. Ich beobachte einen kleinen Jungen, der vertieft an einer Sandburg baut. Er arbeitet präzise, mit Augenmaß – und extrem schnell. Man hätte ihm den Berliner Flughafen anvertrauen sollen. Neben ihm steht ein anderer Junge und beobachtet den Baufortschritt. Noch ein Wassergraben. Noch ein Mauer mit Zinnen. Eine Muschel wird zur Zugbrücke. Dann plötzlich der Angriff. Der beobachtende Bengel springt mit einem spitzen Schrei in die Luft und landet mit beiden Füßen mitten im Burghof, sprengt Mauern, Zinnen und Gräben. Die Burg ist im Eimer. Kein Ritter, kein Burgfräulein hätte diesen Angriff überlebt. Jetzt gibt es Ärger, denke ich. Doch der Mini-Baumeister lächelt den Zerstörer nur souverän an und sagt: „Dann baue ich eben was Anderes – und noch viel schöner!“
Das ist Disruption, wenn es gut läuft. Mutig zu erkennen, dass die Zeit für eine Branche, ein Unternehmen, ein Produkt, eine Dienstleistung abgelaufen ist. Und dann auf etwas Neues zu setzen: Anders. Weiter. Machen.
Bessere Zahlen trotz Disruption
Radebeul bei Dresden. Einen Monat zuvor. Ich halte einen Vortrag bei einem der größten Druckmaschinenhersteller der Welt: Koenig & Bauer. Ein stolzes Unternehmen. 200 Jahre Rotationsdruck. Die erste London Times wurde auf einer ihrer Druckmaschinen produziert. Aber das ist lange her. Die Branche ist in Schieflage. Weil Rotationsdruckmaschinen kaum mehr gekauft werden. Immer weniger Zeitungen und immer mehr Online-News bedeuten immer weniger bedrucktes Papier. Die Nummer 1 der Branche konnte nur mit Staatshilfe gerettet werden. Die Nummer 2 wurde zerschlagen und ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Koenig & Bauer aber hat einen Neuanfang gewagt und sich rechtzeitig umorientiert auf das Bedrucken von Verpackungen. Und wenn man schon druckt, dann kann man das Zeug gleich auch stanzen. Diese Strategie rettet das Unternehmen. Sein Aktienwert hat sich in den letzten drei Jahren versiebenfacht. In einem stagnierenden Markt wäre das schon eine beachtliche Leistung, in einem disruptiven Markt gleicht das einer Sensation.
Neuanfang statt Schieflage
Viele Märkte, viele Marken ruhten einst auf Beton-Fundamenten. Kodak – der Fotopionier. Nokia – die Telefonie-Revoluzzer. Nixdorf – die Computerpioniere. Die Digitalisierung hat ihre Fundamente in Sand verwandelt. Es bedarf der Weitsicht der Unternehmen, des Mutes der Entscheider, der Freiheit für unkonventionelle Entscheidungen, der Deregulierung von Seiten der Politik, damit die Schieflage zum Anfang vom Anfang wird.
Enthusiastisch wie am ersten Tag
Ich habe den kleinen Jungen noch einmal wiedergesehen. Tage später. Gleicher Bauplatz.
Ziemlich früh am Morgen. Diesmal war es keine menschliche Disruption, die ihm sein Sandgebäude genommen hatte, sondern die nächtliche Brandung. War ihm egal. Er baute schon wieder an etwas Neuem. Als befolgte er den Rat von Amazon-Gründer Jeff Bezos, der jeden Tag zum Neustart aufruft: „Today is still DAY ONE!“