Dem bekannten Hirnforscher Gerald Hüther liegt die Würde des Menschen besonders am Herzen. In seinem Buch „Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ beschreibt er sie als Art inneren Kompass, der uns Orientierung und Sicherheit gibt, aber uns leider (zu) oft abhandenkommt.

1. Herr Hüther, Sie vertreten die Ansicht, dass Menschen sich mehr ihrer eigenen Würde bewusst werden müssen. Sind wir denn dabei, unsere Würde zu verlieren?

Nur dann, wenn eine Person eine Vorstellung davon entwickelt hat, was für ein Mensch sie oder er sein möchte und sich auf diese Weise ihrer Würde bewusst geworden ist, kann sie auch darauf achten, dass ihre Würde nicht von anderen verletzt wird. Solange wir davon ausgehen, dass wir Würde besitzen, weil sie uns von einem Schöpfergott geschenkt wurde oder weil sie grundsätzlich als unantastbar bezeichnet wird, können wir sie auch nicht verlieren.

Aber die Bereitschaft der Menschen, sich ihrer eigenen Würde bewusst zu werden und darauf zu achten, dass sie nicht verletzt wird, kann schwinden, wenn sie sich bei einer wachsenden Zahl der Bürger einer Gesellschaft für den eigenen Lebensvollzug und die Durchsetzung eigener Interessen als hinderlich erweist. Das ist beispielsweise in einer sehr stark von ökonomischen Bestrebungen, von Wettbewerb und Leistungsdruck geprägten Gesellschaft der Fall: Früher haben die von solchen Bestrebungen getragenen Machthaber ihre Untergebenen unterdrückt. Inzwischen haben sie eine deutlich bessere Strategie gefunden, um ihre Interessen durchzusetzen: Auf zunehmend geschicktere Weise verführen sie die Menschen mit Incentives in der Wirtschaft, mit guten Karriereaussichten in der Ausbildung, mit Kaufangeboten in den Geschäften und mit allen möglichen Versuchungen im Internet. Wer sich seiner Würde bewusst geworden ist, wird allerdings zu einem Totalausfall für all diese Verführungskünstler.

2. Würde bewahren heißt also unter anderem für Sie, Angeboten – Sie nennen es Verführungen – von Konsum und Wirtschaft zu widerstehen?

Ja, denn wenn ich imstande bin, Versuchungen und Verführungen zu widerstehen, heißt dies, dass ich mich nicht von anderen Personen als Objekt für deren Absichten und Ziele, Belehrungen und Bewertungen, Maßnahmen und Anordnungen benutzen lasse. Und das hängt wiederum davon ab, was mir im Leben wichtiger ist: Anerkennung und Belohnungen zu bekommen oder mir selbst treu zu bleiben und meine eigenen Würde zu bewahren.

3. Wie kann das Bewusstsein der eigenen Würde entwickelt werden?

Um das Bewusstsein von Würde herauszubilden, müssen wir die Erfahrung machen können, dass wir so, wie wir sind, wertvoll, einzigartig und bedeutsam genug sind. Dass wir uns nicht anstrengen und die Erwartungen anderer erfüllen müssen, um von ihnen wertgeschätzt zu werden. Und das nicht erst als Erwachsene, sondern bereits als Kinder, zu Hause, in der Schule, im Sportverein – also überall, wo wir Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft sind.

4. Wie bewerten Sie das Thema „Würde“ in Unternehmen?

Seit es Unternehmertum gibt, gab es auch immer wieder einzelne weitsichtige Firmenchefs, die verstanden hatten, dass unterdrückte und ausgequetschte Mitarbeiter niemals imstande sind, hochwertige Arbeiten zu verrichten und wertvolle innovative Produkte herzustellen. Und es gab freilich auch genügend Unternehmer, denen der schnelle und maximale Profit wichtiger war als die langfristige Stabilität und Innovationskraft ihres Unternehmens. Ein Beispiel, das deutlich macht, wohin die Reise in Zukunft geht, ist die Drogeriemarktkette „dm“. Sie gewährt ihren Mitarbeitern viel Handlungsspielraum. Ihr Marktkonkurrent „Schlecker“, der seine Mitarbeiter bis aufs Klo mit Überwachungskameras kontrolliert hat, ist längst pleite.